Kann Digital Pflege? Dieser Frage stellten sich am 16. und 17. September 2020 über 600 Expertinnen und Experten aus der Pflegepraxis auf der dritten Clusterkonferenz „Zukunft der Pflege“. Digitalisierung war Programm: Der Gastgeber, das Pflegepraxiszentrum Nürnberg, lud in diesem Jahr zu einer rein virtuellen Konferenz ein.
Das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) unterstützt mit dem Cluster „Zukunft der Pflege“ die Entwicklung und Erforschung neuer Pflegetechnologien. Durch eine enge Zusammenarbeit von Forschung, Wirtschaft und Pflegepraxis sollen soziale und technische Innovationen in die Pflegepraxis gebracht und damit ein Beitrag zu einer besseren Pflege in Deutschland geleistet werden. In drei parallelen Live-Streams und unterschiedlichen Formaten drehte sich alles um die Frage „Kann Digital Pflege“? Diskutiert wurden dabei sowohl Lösungen als auch Herausforderungen, die mit technischen Innovationen einhergehen.
Der Veranstaltungskontext hätte aktueller nicht sein können: Die Digitalisierung hat in diesem von der COVID-19-Pandemie geprägten Jahr Konjunktur. Digitale Anwendungen konnten in den vergangenen Monaten Brücken zwischen Menschen schlagen – gerade im Pflegebereich, wenn es darum ging, Angehörige in der Isolation zu kontaktieren oder durch telemedizinische Anwendungen Beratung und Therapie aus der Distanz zu ermöglichen. Das Potenzial ist hoch – so auch das Fazit der Konferenz.
Die Erwartungen an Technologie sind insgesamt sehr groß. Das Besondere am Cluster „Zukunft der Pflege“ sei gerade, dass soziale und technische Innovationen zusammengebracht würden – und das gemeinsam mit Anwenderinnen und Anwendern, betonte Prof. Dr. Veronika von Messling, Abteilungsleiterin Lebenswissenschaften im BMBF, in ihrer Willkommensrede. Nur auf diese Weise könnten neue und digitale Lösungen auch wirklich für eine Verbesserung des Pflegealltags sorgen.
In der Pflege bedarf es einer besonders reflektierten Herangehensweise in der Erforschung, Erprobung und Implementierung von Technologien in der Praxis – in den Pflegeeinrichtungen, im medizinischen Kontext und in der ambulanten Pflege zu Hause, durch Pflegefachpersonen oder durch Angehörige. Die verschiedenen Settings in der Pflege erfordern eine sehr individuelle und situative Betrachtung der Digitalisierung. Grundsätzlich gilt, so unterstrich auch Hermann Imhof, Vorsitzender des ELSI+ Boards am PPZ-Nürnberg, in seiner Begrüßungsrede, dass Pflege zu allererst und vor allem ein analoger Vorgang ist. Menschliche Interaktion, menschliche Fürsorge und Empathie stehen dabei im Vordergrund. Wenn Technologie künftig Aufgaben des Menschen übernehmen solle, müsse trotzdem weiterhin der Mensch im Mittelpunkt bleiben. Nur so schaffe es Technik in die Praxis. Bei aktuellen Produktentwicklungen digitaler Innovationen für die Pflege fehlte jedoch vielerorts noch das Verständnis für die tatsächlichen Bedarfe in den verschiedenen Pflegesettings, so resümierte Herr Imhof.
Weitere Antworten auf die zentrale Konferenzfrage „Kann Digital Pflege“ lieferten Anne Meißner, Professorin für Pflege- und Versorgungsorganisation an der Universität Hildesheim und Bernard Scheider, Hauptgeschäftsführer der Evangelischen Heimstiftung in Stuttgart, in ihren Keynote-Vorträgen. Frau Prof. Meißner erörterte die Möglichkeiten, aber auch die Grenzen von technischen Systemen im gesundheitlichen Versorgungsalltag. Dabei machte sie deutlich, dass Technologie nur eine von vielen Möglichkeiten zur Verbesserung der Pflege sei. Man müsse daher einen Schritt zurückgehen. Zunächst sei im Diskurs zu klären, welchen Beitrag Technologie in der Pflege überhaupt leisten könne. Dabei schwinge auch die ethische Frage mit, in welchen Bereichen Technologie überhaupt helfen sollte. Entscheidend sei daher nicht nur eine systematische Wissensmobilisierung, um technischen Systemen Eingang in die Pflege zu ermöglichen, sondern auch die kontinuierliche, kritische Evaluation, ob diese Systeme einen tatsächlichen Nutzen für alle Beteiligten bringen.
Bernhard Schneider konnte in seinem Vortrag hierzu konkrete Praxiserfahrungen einbringen. Die Evangelische Heimstiftung befindet sich bereits an vielen Stellen der Pflegepraxis in einem Prozess der Digitalisierung. Er zog ein positives Fazit: Digitalisierung habe durchaus das Potenzial, sinnvoll in der Pflege zu unterstützen. Er stellte angesichts der Konferenzfrage jedoch auch die Gegenfrage, ob Pflege denn überhaupt „Digital“ könne und wies damit auf die Tatsache hin, dass digitale Kompetenzen bisher eine nur sehr untergeordnete und eher theoretische Rolle in der Ausbildung und Weiterbildung von Pflegefachpersonen ausmachten.
In ihrem Keynote-Vortrag näherte sich Prof. Dr. Karen Joisten von der Technischen Universität Kaiserslautern der Digitalisierung von einem philosophischen Standpunkt. Konkret forderte sie eine ethische Diskussion über den Einsatz der Schlüsseltechnologie Künstliche Intelligenz (KI) und erläuterte die Hintergründe zu ethischen und moralischen Ansätzen, die dieser Diskussion zugrunde liegen. Digitalisierung sei ein weltweiter Prozess, den man nicht aufhalten könne, auch nicht im Pflegebereich. Man könne und müsse diesen jedoch angemessen und unter Berücksichtigung ethischer Fragestellungen gestalten. Das Verhältnis zwischen Mensch und Technologie müsse sich sinnstiftend aufeinander beziehen. Grundvoraussetzung dafür sei ein menschliches Bewusstsein, welche Fähigkeiten im Bereich der digitalen Anwendungen entwickelt, gestaltet und ausgeprägt werden sollen. Jeder betroffene Pflegebedürftige und Pflegende solle reflektieren, welche Technologie und digitale Dienstleistung in seinem Setting unterstützend eingebracht werden könne. Nur so könne Technologie dem Menschen dienen und nicht umgekehrt. Um dies auch in Zukunft sicherzustellen, seien viele offene Debatten nötig, die gleichermaßen von Sachwissen, Erfahrungen und Empathie getragen werden sollten.
Neben einer virtuellen Ausstellung flankierte ein Innovationswettbewerb zum Dachthema „Kann Digital Pflege?“ die Konferenz. Das Pflegepraxiszentrum Nürnberg hatte im Vorfeld zur Einreichung kreativer Ideen für digitale Produkte oder Dienstleistungen aufgerufen, die nutzbringend und erfolgreich in der Pflege eingesetzt werden können. Die Bewerberinnen und Bewerber – aus einer Shortlist aus acht Projektideen – präsentierten am zweiten Tag der Konferenz einer Jury ihre jeweiligen Ideen.
Zur Jury gehörten neben Lutz Gros, Referent im Referat Interaktive Technologien für Gesundheit und Lebensqualität als Vertreter des BMBF, Antje Jones, Geschäftsführerin der Angehörigenberatung e.V., Jutta König, Pflege-Prozess-Beratung, Hermann Imhof, Vorsitzender des ELSI+ Board im PPZ-Nürnberg und ehemaliger Patienten- und Pflegebeauftragter der Bayerischen Staatsregierung und Markus M. Lötzsch, Hauptgeschäftsführer IHK Nürnberg für Mittelfranken.
Gewinner des Innovationswettbewerbs war die ZTM GmbH mit ihrer Telemedizinplattform für den Einsatz in ambulanter und stationärer Pflege (MONA). Mithilfe von MONA können medizinische Fachangestellte und Pflegekräfte Ärztinnen und Ärzte entlasten, indem sie an deren Stelle Patientenbesuche übernehmen und Untersuchungen mit mobilen Messgeräten vornehmen. Die behandelnden Ärztinnen und Ärzte können sich dann virtuell hinzuschalten und Anweisungen geben oder aber die erhobenen Gesundheitsdaten am Rechner auswerten. Die Lösung besteht aus einem MONA Rucksack mit modular zusammenstellbaren Anwendungen und Messgeräten. Das Herzstück bildet das MONA Tablet mit integrierter Kamera und vorinstallierter MONA App.
Unter den weiteren vorgestellten Projekten befanden sich:
Insgesamt zeigten die Vorträge und Diskussionen in den zahlreichen Sessions, dass die Digitalisierung in vielen Bereichen der Pflege bereits ein Thema ist, aber in der Umsetzung noch in den Kinderschuhen steckt. Allerdings veranschaulichten die Diskussionsbeiträge auch, dass einige technische Lösungen auf dem Markt noch zu weit weg sind vom Menschen und seinen Bedürfnissen. Es gab einen breiten Konsens, dass hier noch großer Nachholbedarf besteht.
Frau Sibylle Quenett, Leiterin des Referats Interaktive Technologien für Gesundheit und Lebensqualität im BMBF, würdigte die Mitglieder des Clusters „Zukunft der Pflege“ in ihrer Abschlussrede für ihr Engagement und die bisherigen Erfolge sowie die hohe Selbstreflexion bei der Bewertung von Technologien. Es sei wichtig, dass man diese beibehalte und das gemeinsame Ziel, nämlich „die Situation für pflegebedürftige Menschen und für Pflegende zu verbessern und sie bei alltäglichen Problemen zu unterstützen“ nicht aus den Augen verliere. Inzwischen hat das Cluster „Zukunft der Pflege“ die Hälfte seiner Laufzeit erreicht. Viele Maßnahmen müssen jedoch noch weiterentwickelt werden.
Die nächste und vierte Clusterkonferenz findet 2021 in Hannover statt und wird unter dem Motto „Gemeinsam forschen – Für technische Lösungen im pflegerischen Handeln“ stehen. Angeführt von Frau Dr. Regina Schmeer-Oetjen entsteht in Pflegepraxiszentrum Hannover im Rahmen der Förderung eine Station der Zukunft im Bereich der Akutpflege. Mit technischen Innovationen sollen hier die Arbeitsbedingungen für die Pflegenden und die Versorgungssituation der Pflegebedürftigen durch den Einsatz innovativer Pflegetechnologien verbessert werden. Die Pflegefachpersonen werden von Beginn in den Forschungsprozess eingebunden.
„Mein persönliches Fazit: Ja, Pflege kann Digital. Die Pflege sieht sich manchmal dem Vorwurf ausgesetzt, Digitales nicht angemessen umzusetzen. Mit der Konferenz wollten wir einen Impuls setzen: Auch Hersteller sind gefordert kritisch zu reflektieren, ob sich ihre Produkte in die Pflegepraxis einfügen und wie die damit verbundenen Prozessänderungen gemeistert werden können. Wenn für die Pflege ein Nutzen entstehen soll, dann darf die Diskussion über ökonomische und rechtliche Anforderungen oder pflegepraktische und ethische Aspekte nicht getrennt voneinander stattfinden, sondern deren Wechselwirkung muss mit unterschiedlichen Akteuren aus Praxis, Wirtschaft und Wissenschaft diskutiert werden. Gleichzeitig müssen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in ihrem digitalen und technischen Kompetenzerwerb so geschult werden, dass sie die Kontexte und Zusammenhänge, in denen digitale Produkte angewandt werden, eigenständig verstehen und beurteilen können. Denn der Einzug der Digitalisierung gelingt nur, wenn der Nutzen klar erkennbar ist und menschenwürdig gestaltet wird.“
„Die dritte Clusterkonferenz war für uns, den Kolleginnen und Kollegen aus dem Pflegepraxiszentrum Hannover, eine spannende und interessante Erfahrung. Die Frage, inwiefern Digital Pflege kann, lässt sich im Rahmen einer zweitägigen Konferenz sicher nicht abschließen klären. Was jedoch deutlich wurde ist die große Bandbreite an wissenschaftlichen und praxisorientierten Fragestellungen und Lösungsstrategien, Forschungsansätzen und technischen Produkten, die an der Digitalisierung in der Pflege mitwirken. Zusammen gaben die vielen Beiträge nicht nur einen Einblick ins Thema „Kann Digital Pflege?“, sondern auch zur Frage „Wie kann Digital Pflege lernen?“. Die Antwort darauf muss in einem gemeinsamen Entdeckungsprozess zwischen Pflegepraxis, Wirtschaft und interdisziplinärer Forschung Stück für Stück gefunden werden. Zwar war die dritte Clusterkonferenz nicht frei von technischen Störungen, jedoch nehmen wir für unsere Clusterkonferenz im kommenden Jahr viele tolle Eindrücke und Ideen mit. Das schnelle Wechseln zwischen den einzelnen Sessions war beispielsweise sehr anwendungsfreundlich, so dass die Teilnehmenden schnell die Streams an ihre individuellen Interessen anpassen konnten. Die Fokussierung aus den vergangenen drei Clusterkonferenzen hilft uns, einen Schwerpunkt für unsere eigene zu legen. Die vierte Clusterkonferenz wird im am 16. und 17. September 2021 in Hannover unter dem Motto „Gemeinsam forschen – Für technische Lösungen im pflegerischen Handeln“ stattfinden.“
„Die Cluster-Konferenz zeigt sehr schön auf, wie vielseitig Pflege und Digitalisierung sein kann. Ich bin sehr begeistert davon, was sich alles in den letzten Jahren entwickelt hat und wie auch die Pflege von der Digitalisierung profitieren kann. Ich bin mir sicher, dass Digital Pflege kann, wenn wir praxisorientiert vorgehen. Das liegt eben nicht in der Verwaltung, sondern bei der Betreuung und Pflege der Menschen. Über den 1. Platz im Innovationswettbewerb freue ich mich sehr. Es zeigt auch, dass die Vernetzung zwischen Pflege und Medizin von großer Bedeutung ist und beide Welten noch näher rücken können. Mit dem Preis erhoffe ich mir, dass sich noch viele weitere Initiativen bilden und wir viele Weitere von der digitalen Vernetzung begeistern.“