Hochschullehre grenzenlos? Ein Modell integrierter Lehre

Die Ergebnisse des im Rahmen des Clusters Integrierte Forschung vom BMBF geförderten Projekts SoDiLe sind in ein praxisnahes Lehrbuch geflossen. Im Interview geben die Autoren Auskunft über das innovative Lehrprojekt.

„Nur in der Vielfalt der Perspektiven wird mir meine eigene Perspektive deutlich“, erklärt Prof. Dr. Marcell Saß, Theologe an der Philipps-Universität Marburg. Er hat zusammen mit Prof. Dr. Axel Benning, Jurist an der Hochschule Bielefeld, das Projekt SoDiLe umgesetzt. Dazu haben die Forschenden Studierende aus unterschiedlichen Fachdisziplinen zusammengebracht. Ihre Erfahrungen mit diesem interdisziplinären Projekt haben sie im Lehrbuch „Hochschullehre grenzenlos? Ein Modell integrierter Lehre“ festgehalten.

Prof. Dr. Axel Benning, Hochschule Bielefeld© privat

Herr Prof. Benning, wer sollte Ihr Buch lesen und warum?

Unser Buch richtet sich an alle, die Lehrveranstaltungen an Hochschulen und Universitäten gestalten, ganz egal, ob Anfänger oder erfahrene Professorin. Es ist besonders für die gedacht, die ihre Studierenden nicht nur fachlich ausbilden, sondern auch zur Bearbeitung großer gesellschaftlicher Herausforderungen befähigen wollen. Wichtig ist nur die Bereitschaft, über die Grenzen der eigenen fachlichen Disziplin nachdenken zu wollen.

Denn mit Studierenden unterschiedlicher Fächer kompetenzorientiert zu arbeiten, ist und bleibt eine hochschuldidaktische Herausforderung. Das Buch gibt Anregungen dafür, wie diese Herausforderung bewältigt werden könnte. Wir nennen das „integrierte Lehre“, weil die einzelnen disziplinären Perspektiven nicht nur nebeneinanderstehen, sondern miteinander konstruktiv in Beziehung treten. Wer angesichts großer gesellschaftlicher Herausforderungen (z. B. der Digitalisierung) nach Impulsen für die eigene Lehre sucht, findet hier theoretische Grundlagen und konkrete Tipps.

Prof. Dr. Marcell Saß, Philipps-Universität Marburg© privat

Herr Prof. Saß, was sind die Chancen und Herausforderungen einer hochschultypübergreifenden Lehre?

Die größte Chance liegt darin, dass ich mich selbst durch die Begegnung mit anderen besser verstehe. Nur in der Vielfalt der Perspektiven wird mir meine eigene Perspektive deutlich. Das gilt besonders für unterschiedliche Hochschultypen. Wer an einer Hochschule für angewandte Wissenschaften einen Einführungskurs lehrt, muss andere Erwartungen von Studierenden berücksichtigen als jemand, der an einer Universität ein Seminar in theoretischer Philosophie anbietet. In der Regel begegnen sich diese beiden Welten nicht. Wir glauben allerdings, dass eine Kooperation außerordentlich hilfreich ist. Wenn nämlich Lehrende aus verschiedenen Hochschultypen und Fachkulturen zusammenarbeiten, entdecken sie, dass komplexe Probleme stets aus verschiedenen Blickwinkeln zu betrachten sind und sich praktische sowie theoretische Zugänge ergänzen. Das fördert Verstehen, Kreativität und Problemlösungskompetenz.

Die größte Herausforderung dabei ist die gemeinsame Verständigung – unterschiedliche Begriffe, Denkweisen und Arbeitsmethoden führen leicht zu Missverständnissen. Es braucht Offenheit, gegenseitiges Interesse und den Versuch, eine gemeinsame Sprache zu finden.

Herr Prof. Benning, welche Fallstudie haben Sie mit den Studierenden behandelt? Welche Erkenntnisse haben Sie daraus ziehen können?

Wir haben mit den Studierenden eine Fallstudie zur Mensch-Maschine-Interaktion bearbeitet, konkret zur Entwicklung eines Roboters, der alleinlebende ältere Menschen unterstützt. Diese Fallstudie wurde von Studierenden aus den Fächern Jura, evangelische Theologie und Informatik bearbeitet.

Unsere Erkenntnis war: Nur durch die Kombination technischer, rechtlicher und ethisch-anthropologischer Perspektiven und deren Reflexion lassen sich Lösungsansätze sinnvoll und verantwortungsbewusst entwickeln. Die Studierenden lernten dabei, nicht nur aus ihrer Fachperspektive heraus zu argumentieren, sondern auch die Perspektiven anderer zu verstehen und dadurch die eigene Position besser begründen zu können – ein zentrales Ziel integrierter Lehre.

Herr Prof. Saß, sollten interdisziplinäre Seminare Ihrer Meinung nach in die Hochschul-Lehrpläne aufgenommen werden?

Unbedingt, und das geschieht auch vielerorts bereits. Allerdings zeigen unsere Erfahrungen aus vielen Jahren Hochschullehre, dass interdisziplinäre Seminare häufig lediglich verschiedene Fachperspektiven nebeneinanderstellen. Integrierte Lehre geht darüber hinaus. Wir möchten in interdisziplinären Seminaren Studierende nicht nur fachlich auf die Berufswelt vorbereiten, sondern auch darauf, kompetent Verantwortung in der Gesellschaft zu übernehmen und dabei die eigenen fachlichen Grenzen zu kennen. Interdisziplinäre Seminare in diesem Sinne fördern „Future Skills“ wie Perspektivwechsel, Teamfähigkeit, ethische Reflexion und zivilgesellschaftliche Verantwortung. Wenn Hochschulen und Universitäten auch ihrer gesellschaftlichen Verantwortung gerecht werden wollen, müssen solche Formate fester Bestandteil der Curricula werden – nicht als Ausnahme, sondern als strukturelles, verpflichtendes Angebot.

Das Buch ist im wbv-Verlag erschienen, bestell- und abrufbar unter:
https://www.wbv.de/shop/Hochschullehre-grenzenlos-I77673

Weitere Informationen

Projektsteckbrief SoDiLe