„Automatisiertes Fahren soll Nebenaktivitäten bis hin zu Powernapping erlauben“

Am 18. Juni 2022 ist Tag der Verkehrssicherheit. Initiiert vom Deutschen Verkehrssicherheitsrat (DRV) wird der Tag bundesweit genutzt, um für umsichtige Verhaltensweisen im Straßenverkehr zu werben. Forschung im Bereich der interaktiven Technologien trägt zu einer sicheren Mobilität bei. Dr. Ulrich Canzler von der CanControls GmbH und Koordinator des BMBF-geförderten Projekts DrAIve erläutert wie.

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©skynesher/iStock

Herr Dr. Canzler, heute ist der Tag der Verkehrssicherheit. Wie bewerten Sie die heutige Verkehrssicherheit auf bundesdeutschen Straßen aus Sicht der Autofahrerinnen und Autofahrer?
Sie ist besser als noch vor einigen Jahren. Denn heute helfen vielerorts unzählige Sensoren im Umfeld der Verkehrsinfrastruktur dabei, den Verkehr zu steuern und damit für alle Verkehrsteilnehmerinnen und -teilnehmer sicherer zu machen. Die Sicherheit für den Menschen wird weiterhin zunehmen. Dazu werden künftig auch Telemetrie-Daten, also Messwerte von Sensoren in Echtzeit beitragen. Hinzu kommt die zunehmende Vernetzung von Fahrzeugen, die das Fahren ebenfalls sicherer macht. Im Fokus von Forschung und Entwicklung stehen aber auch assistierende und intervenierende Sicherheitssysteme, die ebenfalls die Unfallgefahr reduzieren. Weitgehend unberücksichtigt bleibt aktuell jedoch die Betrachtung der Fahrbereitschaft der Fahrenden – und zwar sowohl in manueller als auch in mentaler und gesundheitlicher Hinsicht. Die Gesetzgebung hat diese Sicherheitslücke erkannt und fordert deshalb folgerichtig die Erhebung und Bewertung des menschlichen Verhaltens im Rahmen kommender EuroNCAP-Regulatorien.

Fahrzeuge werden also immer autonomer. Birgt das auch Herausforderungen für die Sicherheit im Straßenverkehr?
Richtig, Fahrzeuge bewegen sich zunehmend autonom. Aktuelle Fahrerassistenzsysteme unterstützen zwar in spezifischen Situationen, fordern aber weiterhin eine durchgängige Bereitschaft der Fahrerenden. Ziel des autiomatisierten Fahrens ist es ja, zum einen den Fahrenden Nebenaktivitäten wie etwa ein kurzes Powernapping zu erlauben. Zum anderen sollen sie aber auch Unfälle aufgrund von menschlichem Fehlverhalten reduzieren. Der Schritt zu zeitweise automatisiert steuernden Fahrzeugen erfordert dann zusätzliche intelligente Systeme, um die Fahrtauglichkeit der Fahrenden zu prüfen und deren Übernahmebereitschaft zu klassifizieren. Da besteht noch Nachholbedarf: Standardsituationen im Verkehr sind durch Automation zwar immer besser beherrschbar, aber die Komplexität äußerer Faktoren zwingt den Menschen dennoch in vielen Fällen, die Fahrzeugkontrolle zu übernehmen. Das erfordert natürlich, dass wir beim Fahren stets wachsam und fahrbereit bleiben.

Was heißt das konkret für Fahrerinnen und Fahrer?
Auf der niedrigen Stufe des automatisierten Fahrens müssen Fahrende also weiterhin den Verkehr und das Verhalten des Fahrassistenzsystems beobachten - so wie auch der Autopilot im Flugzeug kontrolliert werden muss. Dies ist aktuell jedoch noch sehr ungewohnt für die Fahrerin und den Fahrer und erfordert zum Teil sogar mehr Aufmerksamkeit als das gewohnte selbstständige Fahren. Andererseits kann ein übermäßiges Vertrauen in die Technik oder auch ein fehlendes Systemverständnis dazu führen, dass der Mensch entweder überzogen sorglos oder zu ängstlich reagiert. Auch kann die fehlende aktive Fahrbeteiligung zu Langeweile führen, auch zu Leichtsinn und im schlimmsten Falle auch in eine Depression. Der Mensch, seine Gesundheit und Lebensqualität, muss deshalb bei der Technikentwicklung unbedingt im Mittelpunkt stehen.

Wo setzen Sie und Ihre Forschungspartner im Projekt DrAIve an und worin liegt die Herausforderung?
Wir wollen ein auf künstlicher Intelligenz basierendes System entwickeln, das den Zustand der Fahrenden erkennt und eine Warnmeldung abgeben kann. Hierfür arbeiten wir mit Audio- und Video-Daten, die einen Rückschluss darauf erlauben, ob die Fahrerin oder der Fahrer für eine Übernahme des Steuers bereit ist. Dazu werden kognitive, emotionale und physische Parameter sowie Ablenkungsreize im Fahrzeuginnenraum analysiert und kategorisiert. Erkannt werden etwa Zeichen für Wut, Müdigkeit, Schmerzen oder Streit. Um den größtmöglichen Datenschutz zu garantieren, werden wir die Einzelmodule dezentral organisieren. Die Herausforderung für das Verfahren besteht in der Komplexität und Kombinationsvielfalt: Welches menschliche Verhalten kann mit welchem Sensor auf Basis welcher Merkmale in welchem Setup gewonnen werden? Einige Verhaltensweisen wie Husten, Niesen oder Sekundenschlaf lassen sich deutlich einfacher simulieren, messen und bewerten als andere wie etwa Tagträumen und Müdigkeit.

Was übernimmt die KI im DrAIve-System und welche Rolle spielt es für unsere Mobilität der Zukunft?
KI unterstützt in unserer Lösung dreierlei: die Datengenerierung, die Verhaltens-Modellierung und die System-Evaluierung. Konkret analysieren wir dabei drei Arten der Fahrerbereitschaft: Die mentale Bereitschaft wie etwa Müdigkeit, die manuelle Bereitschaft, also ob die Person etwa durch Essen, Trinken oder Rauchen abgelenkt ist und schließlich die gesundheitliche Bereitschaft. Hier kann das System etwa einen Schlaganfall oder Herzinfarkt erkennen oder auch ob die Fahrerin oder der Fahrer unter Alkohol- und Medikamenteneinfluss steht. Damit steigert das System die Verkehrssicherheit und schafft gleichzeitig Vertrauen in das automatisierte Fahren, was in Zukunft in unserer Mobilität mehr und mehr eine Rolle spielen wird, nicht nur im Verkehrsmittel Auto.

Weitere Informationen:
Projekt DrAIve