Technostress: „Es braucht Entlastung und nicht Mehrbelastung durch Technologie“

Christoph Golz ist Co-Leiter des Innovationsfelds Gesundheitsversorgung und Personalentwicklung an der Berner Fachhochschule BFH und erforscht technische Lösungen zur Entlastung des Personals und Förderung des Personalverbleibs im Gesundheitswesen. In mehreren Studien beleuchten er und sein Team den Stress, den die digitale Transformation im Pflegebereich bei den Beteiligten hervorrufen kann.

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Christoph Golz, Co-Leiter des Innovationsfelds Gesundheitsversorgung und Personalentwicklung, Angewandte Forschung & Entwicklung Pflege, Departement Gesundheit, Berner Fachhochschule, Schweiz.©Berner Fachholschule

Herr Golz, Sie erforschen das Phänomen Technostress. Was ist damit gemeint?
Technostress ist ein Ausdruck von Unbehagen, Angst, Anspannung und Beklemmung. Ausgelöst wird dieses durch die Interaktion mit Technologien beziehungsweise, wenn diese fehlen.

In welcher Hinsicht ist dies im Bereich der Pflege besonders relevant zu erforschen und Gegenmaßnahmen zu entwickeln?
Die Arbeitswelt wird zunehmend digitalisiert. Auch das Gesundheitswesen ist davon betroffen, selbst wenn es dort langsamer geschieht. Die Forschung zeigt auf, was mit dem Gesundheitspersonal passiert, wenn diese Digitalisierung stattfindet. In Zeiten knapper personeller Ressourcen und ohnehin schon hohe Belastung, braucht es Entlastung und nicht eine Mehrbelastung durch Technologie. Pflegende machten in den letzten Jahrzehnten eher negative Erfahrungen mit der Implementierung von neuen Technologien aufgrund fehlender Schnittstellen oder geringer Nutzungsfreundlichkeit. Sie beschreiben die Diskrepanz zwischen dem erwarteten Mehrwert und der Realität. Diese Erfahrungen prägten die innere Haltung, die tendenziell negativ behaftet ist.

Was untersuchten Sie genau in Ihrer Studie?
In einem ersten Schritt wollten wir uns einen Überblick verschaffen über das aktuelle Ausmaß von Technostress und die digitalen Kompetenzen beim Gesundheitspersonal. Dafür haben wir mehrere Umfragen in der Schweiz durchgeführt. Wir haben Zusammenhänge von Technostress mit individuellen Charakteristika, Inhibitoren und Konsequenzen angeschaut. Die innere Haltung des Gesundheitspersonals haben wir etwas genauer angeschaut in Interviews, die wir mittels Text Mining analysiert haben.

Wer ist besonders gefährdet, unter Technostress zu leiden?
Unsere Resultate deuten darauf hin, dass Mitarbeitende im ärztlichen Dienst und nachfolgend das Personal in der Pflege einem besonders hohen Risiko ausgesetzt sind. Das hat sicherlich mit ihren Arbeitsinhalten zu tun, insbesondere mit den Anforderungen durch die Dokumentation und Berichterstattung. Auch hat sich gezeigt, dass älteres Gesundheitspersonal über höheren Technostress berichtet. Zudem betrifft es eher Personen mit geringen digitalen Kompetenzen oder auch mit fehlender sozialer Unterstützung im eigenen Team.

Wie geht es besser? Was ist aus Ihrer Sicht zu tun, damit der Bereich Pflege erfolgreich von der digitalen Transformation profitieren kann?
Das Personal sollte frühzeitig in Entwicklungs- und Implementierungsphasen einbezogen werden. Für die Organisationen sollte der sogenannte Quadruple-Aim-Ansatz eine Grundlage sein: Es handelt sich um ein Organisationsmodell in der Gesundheitsversorgung und beschreibt, dass neben den geringeren Kosten, der besseren Gesundheit und der besseren Versorgung von Patienten- und Patientinnen auch die Erfahrung des Pflegepersonals zu berücksichtigen ist.

Wie können wir auf dem Gebiet der Pflege besser darin werden, digitale Anwendungen effizient und richtig anzuwenden?
Die Pflege braucht entsprechende digitale Kompetenzen und es braucht neue Rollen, die den Prozess der digitalen Transformation unterstützen. So könnte es im Team Influencer geben, die mit gutem Beispiel durch Nutzung neuer Technologien vorangehen oder den Team Support, der niederschwellige technische Unterstützung bei Anwendungsfragen bietet.

Ihre Vision: Wie wird es in 10 Jahren mit der Digitalisierung in der Pflege aussehen?
Pflegende treffen bereits in der Ausbildung auf Technologien und erhalten einen Einblick in die Welt der Informatik. Sie bringen sich aktiv in Gespräche rund um die Digitalisierung ein und im Gegenzug werden ihre Vorschläge zu Bereichen, die durch Technologieeinsatz verbessert werden könnten, auch gehört.


Weitere Informationen:

Studie 1:
Full article: Technostress Among Health Professionals – A Multilevel Model and Group Comparisons between Settings and Professions (tandfonline.com)

Studie 2:
JMIR Mental Health - Technostress and Digital Competence Among Health Professionals in Swiss Psychiatric Hospitals: Cross-sectional Study

Studie 3:
https://preprints.jmir.org/preprint/37018

Das Interview wurde im Oktober 2022 geführt.