Interview mit Prof. Dr.-Ing. Heidi Sinning: XR-Technologie zur Beteiligung an Stadtplanungsprozessen

Die Forschenden des Projekts XR-Part präsentierten auf der XR Expo 2024 in Stuttgart ihre Demonstratoren. Projektkoordinatorin Prof. Dr.-Ing. Heidi Sinning, Leiterin des Instituts für Stadtforschung, Planung und Kommunikation der Fachhochschule Erfurt, erklärt im Interview, wie XR-Technologie die Öffentlichkeitsbeteiligung in Stadtplanungsprozessen verbessern könnte.

Prof. Dr.-Ing. Heidi Sinning, Leiterin des Instituts für Stadtforschung, Planung und Kommunikation der Fachhochschule Erfurt.© A. Pöcking 2023

Frau Prof. Sinning, Ihr System unterstützt die Öffentlichkeitsbeteiligung in Stadtplanungsprozessen. Aus welchen Bausteinen besteht XR-Part?

Unser XR-Partizipationssystem setzt sich aus zwei technischen Lösungen zusammen: Zum einen haben wir einen XR-Part-Beteiligungsraum entwickelt und zum anderen haben wir eine XR-Part-Beteiligungstour konzipiert.

Der Beteiligungsraum, ein Metaverse, ist eine virtuelle Alternative zu klassischen Beteiligungsformaten, die in Präsenz stattfinden. Er ermöglicht Kommunen, Online-Workshops mit Bürgerinnen und Bürgern durchzuführen. Diese nehmen von zu Hause aus mit einem Avatar an den Veranstaltungen teil, können sich durch den Raum bewegen, beispielsweise begehbare 3D-Modelle betreten, alternative Gestaltungsmöglichkeiten ein- und ausschalten, mit anderen Teilnehmenden kommunizieren und ihre Meinungen und Vorstellungen einbringen.

Erprobt haben wir den virtuellen Raum anhand der konkreten Fallbeispiele der Rostocker Südstadt, ein Stadtteil dessen Entwicklung partizipativ geplant werden soll, und des öffentlichen Platzes an der Uhlandschule in Mannheim, der neugestaltet werden sollte. Im virtuellen Beteiligungsraum hatten die Städte die Möglichkeit, eine Präsentation zu halten und den Beteiligungsgegenstand zu erläutern. Anschließend konnten sich die Bürgerinnen und Bürger einerseits ein detailgetreues 3D-Tischmodell des Planungsgebiets anschauen. Hier wurden verschiedene Szenarien für die Umgestaltung dargestellt, die zur Diskussion standen.

Bürgerinnen und Bürger können ihre Avatare durch ein Stadtplanungsmodell bewegen und es umgestalten.© VDI-VDE-IT

Andererseits ermöglichte ein begehbares 3D-Modell im Maßstab 1:1, sich direkt ins Planungsgebiet zu begeben, eindrücklich verschiedene Entwicklungsvarianten zu erleben und Meinungen und Ideen einzubringen. Wie bei einem Videokonferenzsystem können die Teilnehmenden im virtuellen Raum, Metaverse, miteinander sprechen und den Platz gemeinsam attraktiver gestalten. Dazu haben wir einen 3D-Objektkatalog mit Pflanzen und Mobiliar für den öffentlichen Raum u.a. in Form von Bäumen, Blumenbeeten, Tischen und Bänken erstellt. Diese Toolbox können auch andere Kommunen für ihre digitalen Beteiligungsformate einsetzen.

Genau wie in klassischen Formaten gibt es auch im virtuellen Raum Beteiligungstools wie interaktive Medienwände, Karten oder die Möglichkeit, etwas auf dem Boden aufzuzeichnen. Für die Kleingruppenarbeit können die Kommunen kurzerhand Audioräume erstellen, in denen die Teilnehmenden ungestört und von anderen nicht gehört, diskutieren können. Das sind technische Möglichkeiten, die einen echten Mehrwert darstellen.

Was hat es mit der Beteiligungstour auf sich?
Die Beteiligungstour ist eine Augmented Reality (AR)-Anwendung, bei der sich die Teilnehmenden physisch im betreffenden Planungsgebiet befinden. Unsere konkreten Beispiele waren auch hier ein Platz in Mannheim und die Entwicklung der Südstadt in Rostock. Die Bürgerinnen und Bürger bewegen sich mit einem Smartphone oder Tablet durch die Gebiete und können sich AR-gestützt die Entwicklungsszenarien zu Themen wie Mobilität, Freiraumentwicklung und Wohnraumentwicklung direkt anschauen.

Auch hier können die Teilnehmenden 3D-Objekte wie Bäume und Bänke platzieren und ihren Platz bzw. ihr Quartier in Echtzeit selbstständig gestalten. So gewinnen sie einen sehr guten Eindruck davon, wie sich das Ganze in die Umgebung einfügt. Sie können ihre Konfiguration abspeichern und die Kommune erhält im Anschluss die Ergebnisse zur Auswertung. An verschiedenen Stationen können sie zudem Zusatzinformationen einblenden und Kommentare hinterlassen. Das Besondere ist also die Verknüpfung von immersiv erlebbaren Visualisierungen mit interaktiven Umfrage- und Kommentierungsfunktionen.

Sie haben beide Ansätze getestet. Wie sind die Bausteine angenommen worden?
Wir haben beide XR-Part-Beteiligungsformate in realen kommunikativen Planungsprozessen der Städte Mannheim und Rostock angewendet. Das Interesse am Beteiligungsraum war sehr groß. Wir haben jedoch gemerkt, dass es für manche Teilnehmende eine Herausforderung war, sich allein zu Hause mit der Technik zurechtzufinden. Da fehlten mitunter die Routinen wie am Anfang von Corona, wo alle erstmal lernen mussten, Web-Meetings zu bedienen. Es kommt vor, dass Menschen erst einmal Schwierigkeiten mit der Bedienung haben und vor allem das Onboarding stellt eine erste Hemmschwelle dar.

Bei der Beteiligungstour waren wir als Team vor Ort und haben Passantinnen und Passanten direkt angesprochen. Da konnten wir den Bürgerinnen und Bürgern unmittelbar bei der Bedienung der AR-App auf den Tablets und Smartphones helfen. Aber auch hier haben wir gesehen, dass digitale Kompetenzen von Person zu Person sehr unterschiedlich ausfallen. Manche Menschen hatten mit den Eingaben Schwierigkeiten oder sogar noch nie ein Smartphone bedient. Andere waren so routiniert, dass sie sich sofort zurechtfanden.

Wir haben also gelernt, dass die Bandbreite der Medienkompetenzen der Bürgerinnen und Bürger im Moment noch riesig ist. Daher war es gut, verschiedene – digitale wie analoge – Beteiligungsmöglichkeiten anzubieten.

Wo liegen zurzeit noch weitere Hemmnisse?
Die höchste Hemmschwelle war die Datenverfügbarkeit. Die Kommunen verfügen in den seltensten Fällen über digitale Zwillinge ihrer Städte. Zwar haben manche Städte digitale Weiß-Modelle, sogenannte LOD2-Modelle. Diese sind aber für immersive Anwendungen nur bedingt geeignet, da sie das Planungsgebiet nicht in ausreichender Detailtiefe und Realitätsnähe abbilden. Für uns bedeutete das, dass wir unheimlich viele Daten selbst erfassen und modellieren mussten.

Auch ist die Systemlandschaft der Kommunen sehr heterogen. Sie haben sowohl individuelle Beteiligungsplattformen als auch unterschiedliche 3D-Stadtmodelle. Eine Anbindung bzw. Schnittstelle zu diesen unterschiedlichen Systemen zu erstellen, wäre viel zu aufwändig. Da muss sich ein Standard durchsetzen. Wir gehen davon aus, dass unsere Technik viel leichter und schneller anwendbar sein wird, sobald überall digitale Zwillinge vorhanden und die Daten kompatibel sind.

Wo sehen Sie den größten Mehrwert Ihrer Technologie?
Der große Mehrwert der XR-Technologie für Bürgerinnen und Bürger, aber auch für Kommunen, ist die 3D-Darstellung. Bei beiden Ansätzen erhält man eine räumliche Vorstellung davon, wie der Platz in Mannheim oder die Südstadt in Rostock zukünftig aussehen könnten. Ich kann mir zum Beispiel anschauen, wie es wirkt, wenn in einer Häuserreihe ein Stockwerk dazukommt. Das ist eine ganz andere Vorstellungsmöglichkeit, als wenn ich das auf Bildern oder Papier sehe. Das in die bisherigen Beteiligungsprozesse der (Stadt-)Planung zu integrieren, das werden für die Kommunen zukünftig große Mehrwerte sein.

Weitere Informationen

Projektsteckbrief XR-Part
Projektwebsite

Das Interview wurde im April 2024 geführt.