Ein Prostatakarzinom anhand von MRT-Schnittbildern zu erkennen, gilt als schwerste radiologische Untersuchung. Im BMBF-geförderten Projekt PAIRADS arbeiten Forscherinnen und Forscher daran, die Diagnose durch Künstliche Intelligenz zu erleichtern. Ein Interview mit Nils Blaumer von der Gemedico GmbH anlässlich des Weltkrebstags 2022.
Herr Blaumer, wie hoch ist heute das Risiko an Prostatakrebs zu erkranken?
Nach einer Schätzung des World Cancer Research Fund international erkranken jährlich 130.000 Menschen neu an Prostatakrebs. Davon verstirbt jährlich etwa jeder Zehnte. Das Prostatakarzinom macht tatsächlich heute 20 Prozent aller Krebsneuerkrankungen aus. Vor allem Männer im höheren Lebensalter erleiden Prostataerkrankungen. Aber nicht nur das fortgeschrittene Alter, sondern auch weitere Faktoren wie körperliche Inaktivität und Rauchen erhöhen das Risiko einer Erkrankung. Im Grunde kann jede körpereigene Zelle so manipuliert werden, dass aus ihr eine Krebszelle entsteht - die Frage ist nur, ob und wann sie bösartig wird.
Warum ist die Diagnose eines Prostatakarzinoms so schwierig?
Radiologische Aufnahmen der Prostata daraufhin zu bewerten, ob ein klinisch relevantes Prostatakarzinom vorliegt, ist für Radiologinnen und Radiologen eine große Herausforderung. Oft müssen mehrere Personen parallel und unabhängig voneinander die gleichen Bilddaten auswerten. Pro Befund bleiben ihnen meist nur etwa 30 Minuten Zeit. Weiterhin ist die Bestätigung der Ergebnisse durch ein Labor notwendig. In diesem zeitbefristeten Prozess besteht das Risiko eines Fehlbefunds, der sogar Sanktionen für verantwortliche Radiologeninnen und Radiologen nach sich ziehen kann. Für die Prostatauntersuchung wird also die ohnehin knappe Ressource Personal besonders strapaziert.
Welche Folgen hat das?
Durch die sehr starke Belastung verliert der Beruf in der Radiologie an Attraktivität. Heute sind nur rund 2 Prozent aller Ärztinnen und Ärzte in Deutschland im Bereich der Radiologie tätig. Diese wenigen Fachkräfte führen in Deutschland jährlich rund 350.000 Untersuchungen auf Prostatakarzinome durch – unter den eben genannten erschwerten Bedingungen. Hier können innovative Technologien erheblich entlasten.
Was erforschen Sie im Projekt PAIRADS?
Wir entwickeln aktuell einen Demonstrator für die Diagnostik von Prostatakarzinomen. Das System soll Radiologinnen und Radiologen durch den Einsatz von Künstlicher Intelligenz (KI) bei der Bilderkennung sowie Identifikation und Lokalisierung von Anomalien unterstützen. Dabei leitet sich der Name des Projekts vom sogenannten PI-RADS Schema ab, auf dem die KI aufbaut. PI-RADS ist ein standardisiertes Klassifikationsverfahren in der Radiologie, welches den Radiologinnen und Radiologen als Hilfe zur Prostatakrebsdiagnostik dient. Die von der KI erzeugten Ergebnisse könnten die bislang erforderliche ärztliche Zweitmeinung ersetzen, wodurch wertvolle Zeit gewonnen und Stress gemindert werden könnte. Die zuständige Radiologin oder der zuständige Radiologe kann eigenständig entscheiden, ob sie dem KI-Ergebnis zustimmen und den Befund hinzufügen oder ob Korrekturen vorgenommen werden müssen.
Welchen Beitrag leistet hier die KI?
Eine KI versucht im Grunde das menschliche Verhalten nachzuahmen. Im Vergleich zum Menschen haben solche interaktiven Technologien den Vorteil, eine viel größere Menge an Informationen in viel kürzerer Zeit verarbeiten zu können. Ein wesentlicher Vorzug liegt darin, dass die KI von allen Dingen losgelöst ist, die den Menschen bei der Arbeit beeinträchtigen und sie somit unbegrenzte Kapazitäten zur Verfügung stellt. Ziel ist dabei aber immer eine kooperative Zusammenarbeit zwischen Mensch und Technik.
Wie stellen Sie sicher, dass Ihre Lösung in der radiologischen Praxis ankommt?
Wichtig bei der Entwicklung ist eine Ausrichtung an den tatsächlichen Bedarfen. Daher orientiert sich in PAIRADS der Lernprozess der KI nah an den Arbeitspraktiken der Radiologinnen und Radiologen. Zwischen Anwendenden und der KI soll im besten Fall eine Dynamik entstehen, die vergleichbar mit der Beziehung zwischen Lehrenden und Lernenden ist. Die KI lernt wie Schüler vom Fachpersonal. So werden Standards eingehalten, welche die Ergebnisse der KI vertrauenswürdig und nachvollziehbar machen.
Die Interaktion zwischen KI und Mensch ist mit den Algorithmen aus sozialen Medien vergleichbar – wenn wir etwa personalisierte Werbung erhalten, die von Zeit zu Zeit immer spezifischer an mein Nutzerprofil ausgerichtet wird und das in einer immerwährenden konstanten Entwicklung. So ist dies auch mit KI in der Radiologie: Das Vertrauen der Radiologin und des Radiologen in die KI wächst durch dauerhaftes Arbeiten mit ihr. Gleichzeitig wird eine Optimierung des Prozesses erreicht. Dadurch erlangt das Fachpersonal auch eine gewisse Kontrolle über die Entscheidungsfindung der KI.
Was ist Ihre Vision im Rahmen Ihrer Forschungsarbeit im Projekt PAIRADS?
Primäres Ziel ist es, die Prozesse in der radiologischen Praxis nachhaltig und nachweislich zu unterstützen. Daraus ergibt sich auch eine Verbesserung für die Gesundheit von Patientinnen und Patienten. Längerfristig sehe ich weitere Anschlussmöglichkeiten für das Projekt. Durch die Integration der KI in den Arbeitsalltag kann Genauigkeit der Arbeit dauerhaft sichergestellt werden. Die gelernte KI öffnet neue Türen. So wird die KI in Zukunft nicht nur die Existenz einer Anomalie erkennen, sondern diese auch klassifizieren und benennen können. Weiteres Ziel im Projekt ist es, dass die Befunde automatisch erstellt werden – eine weitere Entlastung für die radiologische Praxis.
Das Interview wurde im Januar 2022 geführt.
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